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Sonntag, 23. März 2014

Sie lassen einen nicht...

Irgendwo in seinem Känguru-Zyklus (ich glaube, es war "Das Känguru-Manifest") erwähnt Marc-Uwe Kling das Buch "Pu der Bär" von A. Milne. Das Känguru meint, es müsse am Ende des Werkes immer weinen. Ebendiese Erwähnung verleitete mich dazu, das Buch zu kaufen. Natürlich in der brillanten Übersetzung von Harry Rowohlt. Es steht jetzt mit dem Frontcover nach vorn im Bücherregal - eine besondere Auszeichnung, denn es verdeckt dadurch einige andere prominente Buchrücken.
Nun, bereut habe ich die Anschaffung definitiv nicht. Es ist eines der schönsten und (speziell am Ende) tatsächlich erschütterndsten Werke der Kinder- und Jugendliteratur, die ich je gelesen habe. Um es vorweg zu nehmen: Ich musste am Ende auch weinen. Beim Vorlesen. Wie gut, dass ich es vor meinem Sohn verstecken konnte, denn diese Gefühlsregung hätte die Gutenachtgeschichte nicht unbedingt positiv abgerundet.
Ich dachte nicht, dass mich nach "Peter Pan" nochmal ein derartiges Buch so beeindrucken könnte. Peinlich ist es mir übrigens nicht.Zu meiner aktiveren Zeit als Poet war das für mich immer eine Art Sensor für ein gelungenes Werk: Wenn ich nach dem Schreiben einen Kloß im Hals hatte, wusste ich, dass es fertig ist.

Aber der Reihe nach: Ich war schon immer fasziniert von der kindlichen Fähigkeit, sich an winzigsten Details zu erfreuen und sich vollkommen in einer selbst geschaffenen Fantasiewelt zu verlieren. Ich denke mal, das ist der Ursprung aller Kreativität. Je mehr man sich diese Fähigkeit bewahrt, umso kreativer kann man überhaupt sein. Genau darum ist Hans Christian Andersen eines meiner erklärten Vorbilder. Er verkörperte die kultivierte und ins Erwachsenenleben hinüber gerettete Naivität und bewahrte sie bis zum Schluss. Seit ich ein Kind habe, kann ich diese Freude am Detail jeden Tag bewundern. Nichts lässt mein Herz mehr aufgehen als die hingebungsvolle Begeisterung, mit der ein Kleinkind sich minutenlang vollkommenen Nebensächlichkeiten widmen kann. Sei es nun die inzwischen völlig zerdrückte Schachtel mit den Stilleinlagen oder die Schnur, mit der das Nestchen seines Laufgitters an ebenjenem befestigt ist - er lässt sich immer wieder von seiner Faszination hinreißen. Alles ist neu, aufregend und muss erkundet werden.
Vorgestern waren wir beim Bowling und hatten ihn natürlich dabei. Selbstverständlich war die Bowlingbahn interessant (vor allem die flimmernden Anzeigen), aber was ihn am Ende wirklich fesselte, waren zwei Schraubenlöcher in der Holzbank, auf der wir saßen. Mein Sohn stand stundenlang davor, fingerte an den Schraubenköpfen herum, patschte darauf, lachte und brabbelte vor sich hin. Mir wären die Löcher nicht mal aufgefallen!
Genau hier kommt Pu der Bär ins Spiel. Ich denke mal, dass die Disney-Adaption allseits bekannt ist. Die Literaturvorlage von Alan Alexander Milne dagegen ist möglicherweise nicht ganz so präsent. Dabei habe ich selten eine so gekonnte Beschreibung der kindlichen Fantasiewelt gelesen, die gleichzeitig Kindern und Erwachsenen (sofern sie sich darauf einlassen können) eine Gänsehaut bescheren kann. Ich selbst habe es jetzt komplett vorgelesen. Während mein Sohn eigentlich überhaupt nicht zuhörte, war ich völlig gefesselt davon.
Oberflächlich gesehen geht es um die Abenteuer eines dummen, kleinen Bären, der mit seinen Freunden (die im Laufe des Buches zahlreicher werden) scheinbar alltägliche Probleme bewältigt. Geschrieben sind die Geschichten aus einer einzigartigen, schwer beschreibbaren Perspektive - der des Vaters, der sie seinem Sohn Christopher Robin erzählt und ihm dabei quasi einredet, sie selbst erlebt zu haben. Trotzdem sieht der Leser diese Welt durch die Augen des Bären, der sich keine andere Fortbewegungsart vorstellen kann als der, an einem Bein durch die Gegend geschleift zu werden und dabei mit dem Hinterkopf den Boden zu berühren (wobei er in den Geschichten aber durchaus selbst läuft).
Dahinter steckt eine Mischung aus Philosophie, feinsinnigem Humor, Wehmut und der Sehnsucht nach den vielen Kuscheltieren, die einst die besten Freunde waren. Besonders in die Figur des I-Ah kann sich eigentlich nur ein Erwachsener hinein versetzen. Oder ist es nur das, was sich ein Kind unter einem griesgrämigen Erwachsenen vorstellt? Diese Deutung überlasse ich gern dem Leser.
Fest steht, dass auch Christopher Robin älter wird - das merkt man einfach von Geschichte zu Geschichte.

Wie genau es endet und warum dieses Ende wirklich zu Tränen rühren kann, verrate ich natürlich nicht zur Gänze. Ich empfehle einfach wärmstens, dieses Buch zu lesen.
Und falls irgendwo im Schrank noch das allererste Kuscheltier liegt: Nehmen Sie es in einem unbeobachteten Moment einfach mal heraus und überlegen Sie, wann Sie aufgehört haben, sich ernsthaft mit ihm zu unterhalten. Es wird Sie vorwurfs- aber auch ein wenig verständnisvoll ansehen. Denn wie Christopher Robin entdeckt, muss man irgendwann damit aufhören. Man muss aufhören, gar nichts zu tun: "Sie lassen einen nicht..."
Aber wenn wirklich niemand hinguckt, kann man es ja doch mal anlächeln und fest drücken. Es wird niemandem was verraten - versprochen.

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